Offener Brief an den DLV-Generaldirektor von Veiko Hille

In Episode115 hatten wir ein tolles Gespräch mit Erik Hille. Hierbei ging es auch um die Stellung des Deutschen Leichtathletik Verbandes (DLV).

Nun, am 19.05.2022, veröffentlichte Veiko Hille – Manager, Trainer & Unterstützer von Erik – einen offenen Brief an den DLV-Generaldirektor Idriss Gonschinska. Unter anderem kritisiert Veiko die fehlende Chancengleichheit sowie den Umgang mit den Athlet:innen. Die genannten Punkte können wir in Gänze sehr gut nachvollziehen und möchten Veiko auch über unsere Plattform die Möglichkeit geben die berechtigte Kritik zu äußern . Gerne möchten wir euch die Gelegenheit geben, euch selbst ein Bild zu machen, daher dokumentieren wir den Offenen Brief ungekürzt und vollständig.


OFFENER BRIEF
an den Generaldirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes
Herrn Cheick-Idriss Gonschinska

Ein Brief an Gonschinska? Mein Freund aus KJS-Zeiten, der wiederum mit Ihnen in Leipzig studiert hat, sagte mir, „Lass es – ist eh nur Zeit- und Energieverschwendung. Ist doch ein verkrusteter Verband!“

Wahrscheinlich hat er recht. Aber als Sabrina Mockenhaupt den offenen Brief von Marco Scherl (Ehemann und Trainer von Anja) mit den Worten „…Das ist dem (DLV) so was von Latte…“ kommentierte, motivierte mich dies, meine eigenen Gedanken, die mich schon seit Wochen und Monaten plagen, ebenfalls als offenen Brief zu formulieren. Adressiert an Sie, Herr Gonschinska.

Mein Name ist Veiko Hille (Jg. 1969), früherer Skilangläufer beim SC Dynamo Klingenthal. Ich bin Trainer, Mentor, Organisator, Masseur, Obdachgeber, Kummerkasten, Motivator, Sponsor, und nicht zuletzt Vater von Marathonläufer Erik (Jg. 1988), der im „zarten“ Alter von 28 Jahren, als Teilnehmer
des Halbmarathons in Ihrer Geburtsstadt Leipzig, am 9. April 2017 seine Marathon-Karriere als Freizeitsportler startete. Vierter Platz, 1:12:01 h.

Es gab einen 5-Jahres-Plan, an dessen Ende die Teilnahme an den Europameisterschaften 2022 stand. Diesem Ziel wurde ab 2018 alles untergeordnet. Alles. Selbstorganisiert und -finanziert, versteht sich.
Schwere Verletzungen pflasterten den Weg – wir wollten zu schnell zu viel; die biologische Uhr tickt. Auf ein medizinisches und physiotherapeutisches Netzwerk konnten wir anfangs nicht zurückgreifen; wir begannen faktisch bei null – autodidaktisch.

Ich komme, wie Sie, aus einem System, in dem jedem Kind die Möglichkeit gegeben wurde, sich sportlich auszuprobieren und zu entwickeln. Nahezu jedes Talent wurde entdeckt, und, sofern es wollte, entsprechend gefördert. Finanzielle Mittel waren vorhanden, wie übrigens heute auch. Leistungssport war nicht abhängig vom Geldbeutel der Eltern. Jedoch war häufig mit 28 Jahren schon lange Schicht im Schacht. Bei Erik ging’s da erst los – mit nahezu unerschöpflicher Liebe zum Laufen. Bis heute.

Zurück zum DLV. Der Deutsche Leichtathletik-Verband ist nicht nur ein Verband, sondern er ist der mitgliederstärkste Leichtathletik-Verband der Welt! Ein Verband, der jedoch nicht in der Lage ist, Ausscheidungswettkämpfe (sog. Trials) für Kontinental- oder Weltmeisterschaften zu organisieren. Mann gegen Mann, Frau gegen Frau. So wie es in anderen Leichtathletikverbänden dieser Welt gang
und gäbe ist. Das Stichwort wäre hier Chancengleichheit für alle Athleten. Chancengleichheit hat übrigens auch etwas mit Fairness und Respekt gegenüber den Hauptprotagonisten, den Sportlern, zu tun.

Aber Ihr Verband setzt dem Ganzen noch die Krone auf: Nachdem die Deutschen
Marathonmeisterschaften in Hannover die letzte Qualifikationsmöglichkeit für die European Championships 2022 sein sollten, jedoch die Macher des Hamburg-Marathons (drei Wochen später) etwas dagegen hatten, wurde kurzerhand der Qualifikationszeitraum, um eben diese drei Wochen,
verlängert. Nicht nur ein Schlag ins Kontor für die Hannover-Verantwortlichen, sondern eine erhebliche Abwertung der eigenen Deutschen Meisterschaft. Unfassbar!

Die Wertigkeit dieser Deutschen Meisterschaft wurde spätestens bei der Siegerehrung sichtbar, an der kein DLV-Verantwortlicher teilnahm. Weniger Wertschätzung gegenüber der eigenen Veranstaltung und den teilnehmenden Sportlern ist nicht vorstellbar.

Apropos Chancengleichheit. Dem DLV ist es generell egal, wo und wann, und unter welchen (klimatischen) Bedingungen Qualifikationsleistungen erbracht werden. Ob bspw. in Südeuropa, bei nahezu optimalen Bedingungen, oder in Hannover bei stürmischem Wind und Temperaturen um den Gefrierpunkt. Das interessiert den DLV nicht. Auch nicht, dass die offiziellen Zeitangaben während des Hannover-Marathons auf der Strecke falsch waren. Beim Halbmarathon, dem wichtigsten Zwischenziel beim Marathonlauf, zeigte die Uhr, eine um 43 Sekunden bessere Zeit an (s. angefügtes Foto der TV-Übertragung)! Obwohl die Gruppe meines Athleten zu diesem Zeitpunkt 22 Sekunden zu langsam war,
glaubten die Läufer, 21 Sekunden Puffer zu haben, und reduzierten geringfügig ihr Tempo, um Kräfte für die Endphase des Meisterschafts- und Qualifikationsrennens zu sparen. Nur knapp 8 km später, bei
Kilometer 29, bekam Erik von mir die Information, dass er 45 Sekunden hinter der festgelegten Marschroute liegt. Da er der offiziellen Veranstalter-Zeit blind vertraut hatte, und der Meinung war, voll auf Kurs der angepeilten 2:12er Zeit sein, war diese Information für ihn sprichwörtlich der Knockout. Diese Zeitdifferenz war nicht mehr aufzuholen, sodass der Athlet, mental völlig am Ende, letztlich mit 2:15:04 h auf dem Bronzerang der Deutschen Marathonmeisterschaft 2022 finishte.

Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, an einem Tag, würde Chancengleichheit, trotz aller, eventueller Störfaktoren, bedeuten.

Fragwürdig ist sicherlich auch die lange Dauer des Nominierungszeitraumes zur Normerfüllung (lt. Punkt 3.2.7.1 DLV-Richtlinien: 27.01.2021 – 30.04.2022). Absurd ist auch, dass eine zusätzliche Erbringung eines Leistungsnachweises, bei erfolgter Normerfüllung bspw. im Frühjahr 2021, also mehr als ein Jahr vor den European Championships, überhaupt nicht vorgesehen ist. Der Verband nominiert, obwohl er den Leistungs- und/oder Gesundheitszustand seiner Athleten überhaupt nicht kennt.

Und jetzt noch einmal die Frage an Sie persönlich: Sind oben beschriebenen Szenarien, respektive Leistungen, wirklich miteinander vergleichbar, fair und transparent? Sollten Sie diese Frage tatsächlich bejahen, wären Sie kein Sportler mit Herzblut gewesen. Andernfalls würden Sie diese Ungleichheiten qua Amtes bekämpfen.

Aber ich setze noch einen drauf: Mitte Juli, einen Monat vor den Europameisterschaften in München, finden in den USA die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2022 statt. Im Marathon gibt es je Geschlecht drei Startplätze. Der DLV nutzt (und das auch noch im Land seines Hauptsponsors) jedoch dieses Kontingent nicht aus. Er nominiert nur eine Läuferin und einen Läufer. Warum das? Warum werden (fahrlässig/vorsätzlich) insgesamt vier Startplätze nicht in Anspruch genommen? Schande oder
Armutszeugnis, für den größten Leichtathletik-Verband der Welt?

Den Athleten, allesamt Nutznießer von staatlicher Förderung, wurde freigestellt zu entscheiden, wo sie laufen „möchten“. Wo wir beide herkommen, Herr Gonschinska, wurde „delegiert“. Die Besten wurden delegiert, um sich mit den Besten zu messen. Haben denn die Verbandsverantwortlichen keinen Charakter mehr, und die Athleten nicht mehr den Willen zum höchstmöglichen sportlichen
Wettstreit? Gehen wir etwa nur noch den Weg des geringsten Widerstandes? Und der DLV unterstützt so etwas?

Sprechen Sie mal mit der UEFA oder dem Präsidenten vom FC Bayern München, was sie davon halten, wenn künftig die Fußball-Vereine selbst über ihre Teilnahme an den verschiedenen europäischen Wettbewerben entscheiden könnten? Glauben Sie allen Ernstes, Bayern München würde freiwillig in
der Europa League spielen, weil da ggf. die Chancen auf einen Erfolg größer wären? An dieser Stelle herzlichen Glückwunsch an die Frankfurter Eintracht, zum Gewinn eben dieses Pokales.

Beim DLV ist das offenbar so. Die jeweils drei besten Athletinnen und Athleten wollen bei der EM „im Heimatland“ starten, und dürfen das auch. Deutlich schwächere Athleten wurden für die Weltmeisterschaft nominiert. Das Spitzensportfördersystem wird damit ad absurdum geführt, weitere Athletinnen und Athleten um ihre eigene Startmöglichkeit betrogen.

Zum Thema Spitzensportfördersystem sei noch erwähnt, dass sich in der aktuellen DLV/Bundeskaderliste 2021/2022 für die Disziplin Marathon vier männliche Namen finden, die in ihrem bisherigen Sportlerleben, noch nie einen Marathon gelaufen sind, jedoch vollumfänglich, vom steuerfinanzierten Fördersystem, partizipieren.

Der Traum vom Nationaltrikot ist für meinen Athleten geplatzt. An dieser Stelle greife ich gerne die Frage von Marco Scherl, aus seinem offenen Brief, auf: „Will man … einen Verband vertreten, dessen gelebte Werte man selbst nicht vertritt?“

Sport frei. Für Frieden und Chancengleichheit.

Veiko Hille, Nabburg, 19.05.2022

Ergänzend

Öffentlicher Brief als PDF

TV-Übertragung (Bild)

Wenn Verbände als Monopolisten ihre Machtposition ausnutzen | Offener Brief von Anja Scherl (LG Finanz Regensberg)